Leben und Wirken des Sebastian Kneipp

„Wohltäter der Menschheit“ oder „größter Kurpfuscher und Betrüger“, so wurde Sebastian Kneipp von seinen Zeitgenossen genannt - je nachdem, ob sie zu seinen Anhängern oder seinen Kritikern gehörten. Er war eine umstrittene, polarisierende Persönlichkeit, an der sich die Geister schieden. Seiner Zeit war er voraus, war geradezu ein Revolutionär. Denn das, was er tat, ließ sich mit den Sittenvorstellungen des 19. Jahrhunderts zum Teil nicht vereinbaren. Das Leben von Sebastian Kneipp war hart, er musste ständig gegen Widerstände, Anfeindungen und Verleumdungen kämpfen. Allen Widerständen zum Trotz fand seine Lehre immer mehr Anhänger. Seine Bücher wurden Bestseller, und die Kranken pilgerten zu Tausenden in das kleine Örtchen Wörishofen. Als alter Mann dann wurde er fast wie ein Heiliger verehrt.

Das „Schlüsselerlebnis“

Sebastian Kneipp wurde am 17. Mai 1821 im schwäbischen Stephansried geboren. Sein Vater war Weber, er hatte zwei Halbschwestern und zwei leibliche Schwestern. Die Kindheit war vor allem geprägt durch bittere Armut und Mitarbeit beim Vater am Webstuhl oder als Viehhirte des Dorfes. Als "Schlüsselerlebnis" gilt ein Erlebnis mit einer zu hütenden Kuh, die sich verletzt hatte und aus eigenem Antrieb das verletzte Bein vom kalten Wasser im Bach umspülen ließ.

„Flausen im Kopf“

Von 1827 bis 1833 besuchte Sebastian Kneipp die Dorfschule in Stephansried und von 1833 bis 1839 die Sonn- und Feiertagsschule in Ottobeuren. Schon früh wusste der Junge, dass er mehr wollte: Er wollte „studiere“! Zu seiner Zeit war das allerdings unvorstellbar für einen Dorfjungen aus ärmsten Verhältnissen. Sein erster Kampf begann. Natürlich fand er kein Gehör und schon mal gar kein Verständnis für seinen Wunsch, weder bei seiner Familie noch beim Dorflehrer. Der Bub hatte ja nur „Flausen im Kopf“. Aber Kneipp ließ sich dadurch nicht entmutigen. Da ihm keiner helfen wollte, musste er sich das Geld fürs Studium eben selbst verdienen! Er arbeitete hart, legte jeden verdienten Pfennig beiseite – zwei Jahre lang. Eine (für seine ärmlichen Verhältnisse) stattliche Summe hatte er so zusammengetragen, und er sah sich schon fast am Ziel. Doch dann brach ein Feuer aus, das sein Elternhaus bis auf die Grundmauern niederbrannte – und mit dem Haus verbrannten die Ersparnisse. Ein harter Rückschlag für den jungen Mann.

Ein Traum wird wahr

Genau zu dieser Zeit war es auch, dass Kneipp erstmals jemanden traf, der ihn wegen seines Wunsches zu studieren nicht für verrückt erklärte. Nachdem seine Ersparnisse verbrannt waren, war er so verzweifelt gewesen, dass er einfach von zuhause fortging. Er fand eine Anstellung als Knecht beim Bauern Stahl in Grönenbach. Ein weitläufiger Verwandert, der Pfarrer Dr. Matthias Merkle in Grönenbach war es, der den jungen Kneipp in Latein unterrichtete und ihn zur Aufnahme ins Gymnasium vorbereitete. Als er 1844 in das Gymnasium zu Dillingen aufgenommen wurde, war er bereits acht Jahre älter als seine Mitschüler. 1848 begann er sein Studium der Theologie und war zu diesem Zeitpunkt schon 27 Jahre alt, aber er hatte den ersten großen Sieg seines Lebens errungen: Sebastian Kneipp hatte seinen Traum, zu studieren, wahr gemacht.
Von großer Bedeutung war ferner das Kennenlernen des Grönenbacher evangelisch-reformierten Pfarrers Christoph Ludwig Koeberlin (1794-1862), eines Botanikers und Pflanzenheilkundlers.

Selbstversuche

Doch war sein Leben hart und von Widerständen geprägt. So ließ das nächste Hindernis nicht lange auf sich warten. Kneipp erkrankte an der Schwindsucht (Tuberkulose) und wurde von seinem behandelnden Arzt praktisch aufgegeben. Man könne nichts mehr für ihn tun, meinte dieser. Kneipp dachte schon daran, Dr. Merkle um den letzten Beistand zu bitten, als ihm zufällig das Buch „Unterricht von der Heilkraft des frischen Wassers“ von Dr. Johann Siegmund Hahn in der Bearbeitung von Professor Oertel in die Hände fiel. Kneipp hatte den großen Wunsch, Priester zu werden, und dieser Wunsch gab ihm die Kraft, gegen die Krankheit zu kämpfen.
Er begann mit der Selbstbehandlung in Form von drei kalten Waschungen täglich und trank zwei bis drei Liter frisches Wasser pro Tag. Er tat das, obwohl er selbst nicht mehr an eine Heilung glaubte. Eines Tages, im November des Jahres 1849, war seine Verzweiflung so groß, dass er sich mitten in die eiskalte Donau setzte. Natürlich heimlich, natürlich nachts – denn öffentlich hätte man so etwas zu seiner Zeit nicht tun können. Weil er beim ersten Mal sein Handtuch vergessen hatte, schlüpfte er anschließend durchnässt in seine Kleider, was er sich künftig zur Gewohnheit machen wird. Schon nach dem dritten nächtlichen Bad in der Donau trat Besserung ein. Seine vollständige Genesung mag ihm und seinen Zeitgenossen wie ein Wunder vorgekommen sein.

Heimlich in der Nacht

Im darauffolgenden Jahr 1850 erhielt er einen Freiplatz am Georgianum in München und setzte dort sein Studium fort. Tägliche Wasseranwendungen waren inzwischen zum festen Bestandteil seines Lebens geworden. Aber wie sollte er sie ausführen? In München fand er keine Möglichkeit, heimlich und unbemerkt in die Isar zu steigen. Freibäder gab es noch nicht, ein öffentliches Baden war zu jener Zeit absolut unvorstellbar. Da sah er zufällig den Gärtner, der mit dem Gießen der Blumen beschäftigt war, und das brachte ihn auf eine Idee. Abends vor dem Schlafengehen stellte er sich die gefüllte Gießkanne im Innenhof bereit. Und dann, mitten in der Nacht, wenn alles schlief, kletterte Kneipp zum Fenster hinaus und machte seine Anwendungen. Auch sonst beschäftigte er sich weiter mit dem Thema, las Bücher, besuchte den „Verein der Wasserfreunde“ und hörte dort erstmals etwas über Umschläge und Wickel, von diätetischer Lebensweise bei bestimmten Erkrankungen und von Prießnitz und Gräfenberg, die schon seit 30 Jahren mit Wasser kurierten.
Es kam das Jahr 1852. Vor seiner Weihe zum Priester stand eine medizinische Untersuchung an. Der untersuchende Arzt Dr. Horner bescheinigte: „Er ist kerngesund!“ Doch sein Mitstudent Langmeyer bekam kein ärztliches Attest und wurde somit nicht zur Priesterweihe zugelassen. Kneipp hatte Mitleid mit ihm, wollte ihm helfen und behandelte ihn heimlich nachts im Garten mit seiner Gießkanne. Und wieder geschah das Wunder: Langmeyer wurde völlig gesund

Der „Kurpfuscher“

Doch inzwischen war das Geheimnis der nächtlichen Aktionen durchgesickert, man begann, über diesen seltsamen Kneipp zu tuscheln. Das führte aber auch dazu, dass auch andere Studenten sich nun hilfesuchend an ihn wandten. Er wollte sie nicht behandeln, aber seine Freunde drängten ihn, weiterzumachen. Und so kam es schon im Februar 1853 - Kneipp war inzwischen zum Priester geweiht und als Kaplan in Boos (Schwaben) angestellt – zur ersten Denunziation. Er wurde wegen „Kurpfuscherei“ angezeigt. Zwar erhielt er eine Strafe über zwei Gulden wegen „Vergehens gegen das Kurierverbot“, gleichzeitig stellte er aber auch dem Richter am Landgericht Babenhausen, der das Urteil über ihn verhängte, eine Kuranweisung gegen die Gicht aus – und hatte fortan einen neuen Anhänger. Das „Corpus Delicti“ der Verhandlung, die Kuranweisung für Columba Haas aus Boos, ist bis heute das älteste noch erhaltene Dokument dieser Art. Nach der spektakulären Heilung der Magdalene Albrecht aus Boos ging erstmals das Gerücht vom „wundertätigen“ Kaplan um.

Die nächste Klage

Die Menschen suchten seine Hilfe, Kneipp konnte gar nicht anders, als sie zu behandeln. Er brachte es nicht übers Herz, sie einfach wieder weg zu schicken. Das brachte ihm im Jahr 1854 die nächste Klage ein. Wegen „Gewerbebeeinträchtigung und Schädigung“ klagte der Apotheker Semmelbauer aus Babenhausen, Dr. Mannheimer aus Fellheim schloss sich der Klage an. Kneipp erklärte dem Gericht, er habe stets nur Menschen behandelt, die nach jahrelanger Behandlung bei Ärzten und Apothekern keine Hilfe gefunden hätten, die abgewiesen bzw. aufgegeben worden sind oder die einfach kein Geld hätten, sich einen Arzt zu leisten. Er musste daraufhin eine Erklärung unterschreiben, „fürder auch solchen Unglücklichen nicht mehr zu helfen, die angeblich keine ärztliche Hilfe mehr fanden“.

Der „Cholera-Kaplan“

Vielleicht hatte Kneipp sogar tatsächlich die Absicht, sich an diese Erklärung zu halten, doch die Cholera machte ihm einen Strich durch die Rechnung. 1854 brach sie in München aus, von dort aus in ganz Oberbayern und Schwaben. Xaver Kneipp – Sebastians Vater – war eines der ersten Todesopfer der Cholera in Stephansried. Als die Krankheit auch in Boos ausbrach, war Pfarrer Kneipp die Verzichts-Erklärung egal – schließlich ging es hier um Menschenleben. Kneipp handelte und heilte in Boos zweiundvierzig erkrankte Personen. Das blieb nicht ohne Aufsehen: Der Generalvikar beim Bischöflichen Ordinariat wurde aufmerksam und zog Erkundigungen über ihn ein. In der Bevölkerung nannte man ihn den „Cholera-Kaplan“. So war Kneipp ganz froh, als er Ende 1854 nach Augsburg versetzt wurde und dort in der Anonymität der Großstadt untertauchen konnte. Der Rummel um seine Person war ihm nicht geheuer.

Versetzt nach Wörishofen

Er blieb nicht lange in Augsburg. Bereits im Mai 1855 wurde er Beichtvater eines Dominikanerinnenklosters in einem damals bedeutungslosen, winzigkleinen Dorf namens Wörishofen. Er wurde dorthin versetzt in der Hoffnung, dass er in dieser Einsamkeit kein Aufsehen mehr erregen würde. Die Bewohner des Dörfchens hätten sich wohl nie träumen lassen, was die Ankunft dieses Mannes für ihren Ort, für sie selbst, für ihre Zukunft und die Zukunft ihrer Nachfahren noch bedeuten würde. Kneipp machte sich sogleich ans Werk und brachte frischen Wind in das beschauliche Nest - genaugenommen brachte er einfach alles durcheinander. Die Nonnen mussten auf dem Feld arbeiten, die Waisenkinder lernten das Weben, und am hellichten Tag liefen drei geistliche Herren (Kneipp, sein Vetter Funk und der gichtkranke Pfarrer von Kirchdorf) barfuß durch die feuchten Wiesen. Letzteres war zu damaliger Zeit eine Ungeheuerlichkeit – das ganze Dorf war außer sich!
Doch sein Ruf als „Cholerakaplan“ und „wundertätiger Heiler“ hatte sich längst verselbständigt. So standen die Leute an der Klosterpforte und baten um Hilfe. Kneipp konnte gar nicht anders, als sie zu behandeln. Obwohl die Dorfbewohner diesem Treiben skeptisch gegenüberstanden, beeindruckte Kneipp sie dennoch mit seinen landwirtschaftlichen Kenntnissen. Er machte aus der klösterlichen Landwirtschaft einen Musterbetrieb, der immer größere Dimensionen annahm. Er legte Sümpfe trocken, drainierte feuchte Wiesen, kaufte Vieh, schaffte eine Egge an, für die damalige Zeiten ein hochtechnisches Gerät, machte Versuche mit Düngern und verschiedenem Saatgut, schaffte Bienenvölker und Kaninchen an und pflanzte Obstbäume. Im Waisenhaus stieg die Zahl der Kinder von drei auf fünfzig. Sämtliche Nonnen und Kinder erfreuten sich bester Gesundheit.

Weitere Klagen und Massenandrang

Unterdessen wurden es immer mehr Kranke, die täglich an der Klosterpforte standen. Auch den Bauern fiel auf, dass viele fremde Leute ins Dorf kamen. Nun begannen die Ärzte Dr. Kling aus Wörishofen und Dr. Schmitt aus Türkheim, die Leute gegen Kneipp aufzuhetzen. 1861 reichten sie Klage gegen Kneipp ein, scheiterten aber, weil der zuständige Regierungspräsident Hörmann in Augsburg den Pfarrer Kneipp schon persönlich kennen und seine Fähigkeiten schätzen gelernt hatte.
Im Jahr 1863 übertraf der Zulauf in Wörishofen alles bisher Dagewesene. Die Bevölkerung ärgerte sich wohl über die vielen „armen Schlucker“, doch gleichzeitig kamen auch immer mehr geistliche Herren in hoher Zahl und von großem Ansehen zum Kuren. Immer mehr vornehme und wohlhabende Leute kamen und nahmen Quartier im örtlichen Gasthof. Zu dieser Zeit sorgten drei Fälle für Aufsehen: Es hieß, ein gelähmter „Jüngling aus Sontheim“ könne wieder gehen. Des Weiteren sollte eine Frau aus Hartental die letzte Ölung bekommen. Der sie behandelnde Dr. Schmitt soll beim Rausgehen gesagt haben: „Noch ½ Stunde.“. Doch Pfarrer Kneipp nahm keine Ölung vor, sondern soll die Patientin behandelt und geheilt haben. Dann noch der Pfarrer aus Wald, dessen linke Seite nach einem Schlaganfall gelähmt war. Die Ärzte machten ihm keine Hoffnung mehr auf Besserung. Bis auf eine verbliebene Sprachstörung aber soll Kneipp ihn von der Lähmung befreit haben.
1866 legte Dr. Schmitt erneut Beschwerde beim Landgericht ein. Diese landete beim Amtmann Wilhelm Spengler im Bezirksamt Mindelheim, der sie an den Bezirksarzt Dr. Sauter weiterleitete. Dieses beiden, Spengler und Sauter, blieben auch die nächsten Jahre noch arge Widersacher, die immer wieder versuchten, Kneipp Steine in den Weg zu legen. Kneipp beschäftigte sich unterdessen damit, Erfahrungen zu sammeln mit kurzen Güssen, Wickeln und Wechselreizen, und seine Wasserkur immer weiter zu verfeinern – von der Rosskur der Vorgänger Hahn, Oertel und Prießnitz hin zur individuellen Anwendung; Vom Groben zum Milden, und vom Milden zum noch Milderen. Im Juni 1866 fuhr Kneipp nach Homburg im Taunus, zur Wasserheilanstalt nach Prießnitz unter der Leitung von Dr. Pingler. Dieser riet ihm bereits zu diesem Zeitpunkt, sich hilfsweise einen Arzt hinzuzuziehen, um das Kurierverbot zu umgehen und künftige Klagen zu vermeiden.

Die ersten Gasthäuser

In der Sommerzeit war in Wörishofen inzwischen viel los. Die örtliche Gastronomie, die sicher damals noch nicht als solche zu bezeichnen war, entwickelte sich nur langsam und stellte sich nur allmählich auf den Zulauf ein. Der „Rößlewirt“ erkannte die Zeichen der Zeit und erbaute nach einem Brand in seiner Brauerei nun ein „Gasthaus für bessere Leut“, der Bauer Brunner errichtete den „Gasthof zur Sonne“. Zumindest die Wirte in Wörishofen waren nun klar auf Kneipps Seite. Im Bezirksamt Mindelheim legte man die zahlreichen Beschwerden des Dr. Schmitt inzwischen zu den Akten.
Als 1871 Wilhelm von Preußen deutscher Kaiser wurde, wurde Kneipps Freund und Förderer Prof. Dr. Merkle Abgeordneter im Reichstag. Das schönste Geschenk zu Kneipps 50. Geburtstag war dann ein Schreiben Dr. Merkles, der ihm mitteilte, dass es mit der „Kurierfreiheit“ voran gehe. Mittlerweile hatte aber auch eine Landflucht enormen Ausmaßes eingesetzt. Das städtische Leben schien moderner, leichter und verlockender als das Landleben (1850 = 8 dt.Großstädte, 1860 = 9 dt.Großstädte, 1870 = 14 dt.Großstädte). Überall entstand neue Industrie, ein gewaltiger Strukturwandel war im Gange. Das veranlasste Kneipp, sein erstes Buch zu schreiben, in dem er eine Lanze für die Landwirtschaft brach. Noch zwei weitere Bücher über Ackerbau und Viehzucht folgten.

Kurierfreiheit

1873 traf ein Schreiben Merkles ein, in dem dieser mitteilte, dass rückwirkend zum 01.01.1873 auch in Bayern die Kurierfreiheit gelte. Endlich Heilen ohne Gewissensbisse, Verleumdungen, Anfeindungen, Angst und Ärger – mag Kneipp sich wohl gedacht haben. Doch nun liefen Ärztevereinigungen und medizinische Kreise der Hochschulen erst recht Sturm gegen das neue Gesetz; Mittelpunkt der Diskussion war wieder der Pfarrer aus Wörishofen. Die Mediziner ganz Süddeutschlands zeigten mit dem Finger auf ihn.
Aber je mehr geredet wurde, desto mehr Menschen zog es nach Wörishofen. Mittlerweile kamen nicht nur Kranke, sondern auch Neugierige, die einfach mal sehen wollten, ob denn all diese Geschichten von den Barfüßigen in Wörishofen stimmten. In den Zeitungen las man Schlagzeilen wie: „Feine Damen laufen barfuß in Wörishofen und zeigen vor aller Öffentlichkeit ihre nackten Beine.“ – Für die damalige Zeit ein Skandal.
Professor Merkle, inzwischen erkrankt und nicht mehr der Jüngste, sprach immer wieder davon, dass Kneipp einen Arzt brauche, um die Wasserkur „fachwissenschaftlich“ abzusichern. Doch Kneipp war nach all seinen Erfahrungen auf Ärzte nicht gut zu sprechen. Am 10.11.1881 starb Dr. Merkle, der Mann, der eine der wichtigsten Rollen im Leben des Sebastian Kneipp gespielt hatte. Ohne ihn wäre der Traum vom „Studieren“ wohl nicht wahr geworden.

Der erste Arzt

Im Jahr 1883 kam Dr. Bernhuber, ein junger Arzt aus Türkheim, zu Besuch. Er sprach mit Kneipp, fand alles ganz vernünftig, hatte dann aber doch wieder seine Zweifel und schließlich Zweifel an den Zweifeln. 1884 kam er wieder, dieses Mal mit der Bitte, hospitieren zu dürfen. Kneipp bot ihm spontan die Zusammenarbeit an und Bernhuber nahm an. Sie bestritten von nun an die tägliche Sprechstunde gemeinsam, und Bernhuber wurde zum begeisterten Anhänger und Verfechter der Wasserkur. Der Erzabt Maurus Wolter von der Benediktiner-Abtei Beuron seinerseits sorgte damals dafür, dass Kneipp seine Erfahrungen schriftlich festhielt. Weil dieser aber selbst nicht schreiben wollte, schickte Wolter einen Sekretär zum Diktat. Sechs Wochen lang, täglich in der Zeit von 6.30 bis 8.00 Uhr, diktierte Kneipp „Meine Wasserkur“, ohne ahnen zu können, dass dieses Buch noch zum Weltbestseller seines Jahrhunderts werden und er Millionen daran verdienen würde. Die erste Auflage erschien 1886 im Verlag Josef Kösel Kempten mit 600 Exemplaren.

Das „Unternehmen“

Mittlerweile fuhr die Postkutsche vom Bahnhof Türkheim nach Wörishofen fünf mal täglich, bis aufs Dach vollgestopft mit Reisenden. Zusätzlich fuhren sechs Lohnkutschen, und schließlich waren da noch die vielen Mittellosen, die zu Fuß kamen. Ob reich oder arm, ob Fürst oder Stallknecht – Kneipp duzte sie alle, nahm kein Blatt vor den Mund und sagte jedem schonungslos die Wahrheit: bei Damen wetterte er gegen das zu enge Korsett, bei den Herren gegen Saufen und Völlerei. Oft in ruppigem Ton, immer in schwäbischer Mundart. Immer wieder erhoben sich Stimmen aus der Ärzteschaft gegen den „Kurpfuscher von Wörishofen“, auch Dr. Sauter ließ keine Gelegenheit aus, die Stimmung gegen Kneipp zu schüren. Dr. Bernhuber als Gefolgsmann wurde beschimpft und angefeindet, aber gleichzeitig bauten der Bäcker und der Metzger aus Türkheim nun in Wörishofen erste Verkaufsbuden für die Wartenden auf. Apotheker Boneberger aus Mindelheim schloss seinen Laden, warf alle Medikamente in die Abfallgrube und erklärte: Er sei zwar nicht verrückt, aber Pfarrer Kneipp habe recht. Immer mehr Zeitgenossen wurden nun zu Anhängern und Unterstützern der Wasserkur, gehörten zum Kreis der „Getreuen“: Bader Kustermann („moin erschter Badwart“), Kaplan Greck, „der Seelenbeistand“, die gesamte Familie Kreuzer (die Betreiber der ersten Kurhäuser), Ludwig Geromiller, „der Techniker“ (Erfinder und Erbauer zahlreicher Kneippanlagen), Familie Waibel, die Bauern Scharpf, Rauch, Breier, Sproll, Singer und Zapf, und vor allem die „guten Geister“ aus dem Dominikanerinnen-Kloster, Schwester Benedikta und Schwester Sebastiana, sowie Pfarrer Aloys Stückle als „Sekretär“, der Kneipps Post beantwortete. Ein richtiges Unternehmen war das inzwischen geworden. Weil es nicht anders ging, gab die bayerische Postverwaltung dann dem Nest Wörishofen eine eigene Postagentur.

Kein Zurück mehr

Die 13. Auflage von „Meine Wasserkur“ erschien 1890. Kneipp war durch den Verkauf der Bücher inzwischen ein reicher Mann geworden – er wusste es nur noch nicht. Denn über Geld hatte er nie nachgedacht, nie danach gestrebt, welches zu besitzen, für sich persönlich brauchte er auch kaum welches. Seine Zigarren waren sein einziger Luxus, ansonsten trug er sogar jahrzehntelang die gleiche Soutane. Er war bescheiden aufgewachsen, und blieb es bis zum Schluss.
Unterdessen errichtete Familie Kreuzer schon ein zweites, noch größeres Badehaus, und auch Ludwig Geromiller erbaute eine Badeanstalt. Außerdem erfand Geromiller die erste Gießvorrichtung mit Schlauch. Damit es nicht wieder zu einem Chaos kam wie im Sommer des Vorjahres, setzten die fortschrittlichen Köpfe in Wörishofen durch, dass eine Gemeindekanzlei errichtet wurde. Gegen eine Gebühr von 50 Pfennigen konnte hier jeder, der zur Visite wollte, eine Kurkarte kaufen: Damit war die erste Kurtaxe in Wörishofen eingeführt, was praktisch einer Legitimation des Kurbetriebes gleichkam. Nun gab es kein Zurück mehr. Die in der Gemeindekanzlei geführte Fremdenliste glich gleich seitenweise dem „Gothaer Adelskalender“ und las sich wie das Who-is-Who der internationalen Gesellschaft. Vera, die sprachbegabte Tochter der Familie Waibel, fungierte als Dolmetscherin für die Gäste aus aller Herren Länder. Allmählich stiegen nun auch die Grundstückspreise in Wörishofen, da immer mehr auswärtige Geschäftsleute kamen, die in das rasant wachsende Örtchen investieren wollten.

Text mit freundlicher Genehmigung des Kneipp Bund